23 Jan 2016

Selbstfürsorge

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Angestoßen von der Arbeit in einer Psychotherapiegruppe beschäftigte mich die Selbstfürsorge noch weiter. Lesen Sie hier den begleitenden "Verdauungsvorgang" nach.  Zunächst versuche ich Selbstfürsorge (-lichkeit)  aus psychodramatischer Sicht* zu definieren.

Selbstfürsorge ist die Summe aller bisher erfahrenen und entwickelten nährenden Rollenerfahrungen in unserem Leben,
in denen wir das Gefühl des Umsorgtseins auf allen wichtigen Rollenebenen erlebt und positiv verinnerlicht haben (oder uns in dem Prozess dazu befinden).

  1. Diese Fürsorge erfahren wir als Baby und Kleinkind ganz besonders im körperlichen Bereich durch gehalten, getragen, gewärmt, satt gemacht, beruhigt oder unterhalten worden zu sein. Wichtig ist dabei die Ergänzung, dass es dabei nicht nur ums Versorgtsein geht, sondern bereits auch um wichtige anfängliche Kommunikationserfahrung. (attunement nach D. Stern) Kurz gesagt: ein kommunizieren über die sogen. somatischen Rollen.Bild: Küken mit Mutter, Bildquelle: M.Geiger, 2014
  2. Im emotionalen Bereich geht es um: eingefühlt zu sein, in unseren Bedürfnissen erkannt und verstanden zu sein, die Zeit für persönliche Zuwendung erhalten zu haben, Gefühle ausdrücken zu dürfen, Gefühle von anderen beobachten und empfangen zu können, Anreize zu erhalten, Emotion differenzieren lernen.
  3. Im sozialen Erfahrungsbereich benötigen wir: Beziehungen, Identifizierungsmöglichkeiten, Resonanz, Gespiegelt werden , gute und transparente Spielregeln im Zusammenleben, Sicherheit, Wertschätzung, positives feedback, Gemeinsamkeit, Gemeinschaft, gemeinsame Werte etc.
  4. Ebenso im Bereich von Spiritualität und Wertvorstellungen ist fürsorglicher Umgang mit sich wichtig. Wo "spielen" wir mit? Was heissen wir gut, wo setzt Zivilcourage ein, was motiviert uns, welche (ideellen) Werte tragen wir mit? Welche Ideen leiten unser Handeln? Was tröstet, wenn wir z.B alleine sind? Wie lösen wir die Sinnfrage und wie gelingt der Umgang mit dem Thema Tod. Wo sind wir geistig "eingebettet"?

Wenn Fürsorglichkeit auf körperlicher, emotionaler, sozialer und ideeller Ebene selbst erfahren werden konnte, wird sie zu einem Teil, der in uns wirkt. Wie ein innere Stimme oder ein Persönlichkeitsanteil. Die am eigenen Leib erlebte Fürsorge kann sich in Selbstfürsorge verwandeln und dient als wichtige Basis unserer Fähigkeit zur Selbstversorgung - unserer Autonomie.

Alle Fürsorglichkeit bekommen zu haben wäre natürlich sehr wünschenswert gewesen, nur haben unsere Eltern sicher nicht alles davon geschafft. Es bleibt daher eine wichtige  Aufgabe, fehlende Elemente nachzuentwickeln, sie sich z.B. über Vorbilder zu holen, um sie aktiv ins eigene Leben einzubauen. Ergänzend kommen somit im Laufe des Lebens Rollenerfahrungen dazu, die wir selbst initiieren. J.L. Moreno nennt diesen Vorgang role-creating. Selbstfürsorglichkeit ist etwas Bodenständiges und Zeichen von Vitalität, sie hat jedoch nichts mit Egoismus zu tun.

Wichtige Basis für die Entwicklung von Selbstfürsorglichkeit scheint mir die Überzeugung, dass wir Fürsorge "verdienen" und wir  diese lebensbegleitend weiterentwickeln. Mitunter müssen wir an dieses "Grundrecht" erinnert werden. Erfahrene Verletzungen (Rückzug) lassen uns zweifeln, ob eine gute Selbstversorgung zu schaffen ist. Verlockend ist der Gedanke, dass es doch wer anderer für uns erledigen sollte. Der Partner oder die Partnerin? Nein, selbst!

 

Aufgemerkt, selbstfürsorglich zu sein kann Folgen haben, weil ...

  • Selbstfürsorgliche Menschen unabhängiger sind, da sie einer eigenen Meinung nachgehen.
  • Sie spüren sich besser, man kann ihnen daher schwer etwas aufschwatzen.
  • Weil sie selbst fühlen, was sie brauchen, sind sie meist auch wählerischer und
  • außerdem sind sie nicht immer für alle verfügbar, denn sie teilen sich ihre Lebenszeit und Energie SELBST wohlüberlegt ein.
  • Ihre gelingende Abgrenzung läßt sie für Nicht-Abgegrenzte mitunter "egoistisch" erscheinen.
  • Meistens sind sie friedliebender (weil befriedigter) aber wo nötig auch kämpferisch, wenn es um Wichtiges geht.
  • Das macht sie auch mutiger, denn sie wissen, dass und wie sie sich selbst helfen können - Selbstfürsorgliche Anteile sind ein sehr wirkungsvolles Mittel gegen Angst!
  • Selbstfürsorgliche Menschen sind in Bezug auf ihre Mitmenschen kooperativer und weniger neidisch, sie müssen daher auch nicht auf Andersdenkende hinschnappen,
  • auch fürchten sie nicht, dass sie ihre Kinder "verwöhnen" könnten. Denn sie spüren gut, wann / wieviel gebraucht wird und wo die Grenzen liegen.
  • Zumeist sind sie die schlechteren KonsumentInnen, weil sie weniger auf oberflächliche Bedürfnisse ausgerichtet leben.
  • Unbequemer sind sie gelegentlich aus all den oben genannten Gründen,
  • Gelegentlich wirken selbstfürsorgliche Menschen auf andere etwas verlangsamter, genüßlicher und weniger leistungsbereit, weil sie mit ihren Kräften gut haushalten und auf die Regeneration nicht vergessen /verzichten.
  • Fürsorgliche sind (vermutlich) die besseren LiebhaberInnen. Selbstfürsorglichkeit zu entwickeln ist oft zentraler Bestandteil einer Sexualtherapie. Weil, wer mit eigenen Gefühlen gut in Verbindung steht, kann sich auch besser auf eine sexuelle Beziehung zum/zur Partnerin einlassen. Womit wir wieder bei Liebe und Sexualität angelangt sind.

In diese Richtung wirkt auch Psychotherapie mit Hilfe und Ermutigung zur Selbsthilfe sowie mit Begleitung zum Wiederentdecken der eigenen Ressourcen, die letztlich Ausdruck der Selbstfürsorge sind.

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und verbleibe,

Mit lieben Grüssen,

Martin Geiger

 

* Psychodrama ist eine in Österreich anerkannte psychotherapeutische Fachrichtung, Näheres unter Methode

 

 

Vorankündigung: Im nächsten Beitrag wird es um Scham und um das Schämen gehen.