7 Jun 2015

Lustpillen für alle?

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Zu diesem Blogbeitrag regte mich die Pressenachricht an, daß es ein neues "Viagra für die Frau" geben wird. V. ist ja ein Markenname und seit langem bekannt als Potenzmittel für Männer. Weil künftig beide Geschlechter mit Lustpillen versorgt sein werden, entstand der Blogtitel: Lust(pillen) für alle.

Es scheint wichtig zu sein, dass in der heutigen Leistungs- aber auch Spassgesellschaft "am besten alle immer mit allem" versorgt sein sollen, damit "alle auch immer alles schaffen oder erleben können" und das am besten sofort und am kürzesten Wege. Betrifft beide Geschlechter, Profiteure dieser Ansichten ist meist die Wirtschaft, in diesem Fall die Pharmaindustrie.

Switch doch eben schnell vom Arbeitsmodus in den Lustmodus ...

Und vorweg behauptet: mit den Pillen für die Lust werden Hoffnungen geschickt verknüpft und Versprechungen geleistet, auf deren Einlösung sehr viele KonsumentInnen bis heute warten. Lust ist nicht gleich Begehren und sie ist nicht gleich Lieben und Geliebtsein. Ungefähr so, wie sich der Kauf eines sportlichen Autos klarerweise nicht auf die körperliche Fitness des Fahrers und seinen  Bauchumfang auswirken wird.Bildquelle: messagetoeagle.com

Es gibt durchaus Menschen, die mit der Erektionsfähigkeit und sexuellen Empfindungsfähigkeit ihre Not haben - denen dafür selbstverständlich auch ein Medikament zusteht (z.B.bei Erkrankungen wie Diabetes, koronarer Herzkrankheit kann eine Erektion erschwert sein). Aber bei manchen Probanden ist es wohl die Neugier oder eine Fixierung auf sexuelle Handlungen bis hin zur Sexsucht, die unreflektiert übernommene Vorbildwirkung durch Pornokonsum und nicht selten die Umlegung des Leistungsprinzips auf die emotionale Ebene. Wahrscheinlich spielt auch der Mythos eine wichtige Rolle.

Facts zum "Männerviagra"

  • Geschichte: V. wurde ursprünglich als Herzmedikament entwickelt, bis dann auch die erektionsfördernde Wirkung erkannt wurde.
  • Alter und Patentschutz: Viagra ist seit ca. 15 Jahren am Markt, kostete ursprünglich ca. 10 €/ Stück und weil der Patentschutz im Juni 2013 in Europa ausgelaufen ist, gibt es bereits Generika davon. Imitate sind schon lange im Internet zu bestellen (teils ohne Inhaltsstoffe). Der Grundstoff dazu ist nicht teuer. In den USA besteht der Patentschutz noch bis 2020.
  • Wirkprinzip: Der Wirkstoff Sildenafil ermöglicht im Schwellkörper des Penis eine leichtere Muskelentspannung, damit Blut leichter einströmen kann. Eine (emotionale) Erregung ist dabei Voraussetzung. Vom Gehirn aus gesteuert ergibt sich eine Wirkkette aus verschiedenen Stoffen, wie bei einer Eimerkette - Sildenafil bremst den Abbau von cGMP indem es PDM-5 hemmt. So strömt Blut ein und der Penis erigiert.
  • Nebenwirkung: Kopfschmerz, trockene Nasenschleimhaut, visuelle Probleme, Schwindel, Gesichtsröte, Dauererektion (muß unbedingt behandelt werden sonst droht Schwellkörperbeschädigung)
  • Mythen: Das Medikament bringe Lust und Dauersex. Jedoch ohne vorherige Lust und beginnenden Erektionsvorgang bewirkt V. nichts. Siehe Mythos.
  • Marktbedeutung: Der Geldsegen für den Hersteller von V. betrug allein im Jahr 2012 etwas über 2 Milliarden US Dollar (Quelle: statista.com)

Zum "Viagra für die Frau"

  • Geschichte: Es gibt tatsächlich das Männerviagra auch als Medikament für Frauen (Handelsname z.B.Lovegra), der gleiche Wirkstoff bewirkt im weiblichen Körper Ähnliches, nämlich die verbesserte Durchblutung in den Gefäßen des Unterleibes und damit eine erhöhte vaginale Sensibilität bzw. Befeuchtung. Das "echte Viagra" für die Frau hat eine eigene website.
  • Neu: Der Entwicklung einer neuen Lustpille für die Frau liegt jedoch der neue Wirkstoff Flibanserin zu Grunde, durch den der Serotoninspiegel gesenkt(!) und dafür Dopamin/Noradrenalin angehoben wird. Die Entwicklung wurde wegen der Nebenwirkungen bereits 2010 gestoppt, doch nun empfahl der Ausschuss der amerikanischen Arzneibehörde FDA im Juni 2015 , die Zulassung erneut zu prüfen - dies ist als Signal zu werten; nach wie vor sind die unangenehmen Nebenwirkungen im Verhältnis zum Nutzen auffallend. Ergänzung: Im August 2015 ist wie berichtet das Medikament in den USA in den Handel gekommen, Markenname: Addyi.
  • Nicht mehr so neu: Ein anderes "Viagra für die Frau" kommt aus den Niederlanden und ist unter dem Markennamen Lybrido/Lybridos zu bekommen, hier wird Testosteron/Sildenafil oder eine Testosteron/Buspiron (=Angsthemmer) Kombination geboten. Somit ist diese wie auch die auf Flibanserin basierende Lustpille eigentlich bereits ein Psychopharmakon.
  • Marktbedeutung: dazu müßte man Marktforscher sein, ... aber diese Lustpille sorgt in jedem Fall für Aufmerksamkeit.
  • Bedeutung in Beziehungen: Ob künftig ähnlich viele Frauen wie Männer zu einem  Lustmedikament greifen würden? Was dies allenfalls mit den Männern macht, wenn viele Frauen mehr Lust empfinden und entsprechende Forderungen stellen? Was die Frauen mit mehr Lust anfangen und an wen werden sie sich wenden? Werden Männer ihren Frauen diese Medikamente kaufen?
  • Nachrede: Das Erscheinen dieses Medikamentes /ist eigentlich ein "Recycling", denn es war ja von der Pharmafirma als Antidepressivum geplant. Es bedient ein uraltes Thema, nämlich dass Frau und Mann unetrschiedlich sind und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Die sexuelle Lust zu synchronisieren ist nicht einfach oder gar unmöglich. Es kann Ängste wecken, wenn eineR nicht mehr "ausreichend" (das Maß ist dabei individuell) sexuell begehrt wird. Es kränkt mitunter auch, denn Sex ist eine spezielle Form der Nähe. Folge und Ursache von Nähe. Um die Auseinandersetzung mit unseren PartnerInnen werden wir nicht herumkommen. Sehr interessant und ein gesellschaftlicher Spiegel ist auch der Forum-Teil des online Standard-Artikel vom 11.10.2015 über den Verkaufstart von Pink Viagra.

 Lustvolle Links zum Thema

Facit aus der Geschichte von den Lustpillen:

Wer Probleme mit der Lust hat und körperlichen Einschränkungen auszuschließen sind, möge sich überlegen, was er/sie mit seiner/ihrer Lebenszeit so macht. Wer tagsüber dauernd leistet, wird abends müde sein. Wer Angst um das Familieneinkommen und Sorge um gute Kinderbetreuung haben muss und damit alleine gelassen ist, ebenso. Wer rechtzeitig an Regeneration denkt und mit seiner PartnerIn Zeit für spannende gemeinsame Erfahrungen (auch außerhalb des Bettes) "investiert" und sich in der Liebesfähigkeit weiterentwickelt, ... der wird die Chemie kaum brauchen. Nur wenige haben Gefäßprobleme oder andere körperliche Einschränkungen, die tatsächlich ein Medikament für die bessere Durchblutung der Sexualorgane erfordern.

Rezept für einen Lustcocktail:

  • 1x1 Stunde/Woche regelmäßigen Sport, Betonung auf mäßig (>50.000 Liter frische Luft)
  • 1x täglich frische abwechslungsreiche Kost und die Zeit, diese liebevoll zuzubereiten (wer will, öfters auch mit Kürbiskernen, ...wink)Bildquelle: M.Geiger, Sinnlichkeit im Garten
  • 1 handvoll guten Bezug zum eigenen Körper ( beim Pflegen, Wahrnehmen, Entwickeln, Beobachten, Erforschen)
  • 1x täglich einen Löffel Bereitschaft zum Erfahrungslernen u. zum Blick in den Spiegel
  • ideal wären liebevolle Eltern / ist aber nicht immer gegeben / geht auch ersatzweise mit Großeltern / Geschwistern. Außwerdem können Sie das Liebevollsein auch mit Ihren Kindern gemeinsam erlernen.
  • 1 gute Mischung Freizeit/Arbeitszeit im Verhältnis etwa 1:4
  • 1 Liebesbeziehung (und dazu grundsätzlich viele weitere liebevolle Tätigkeiten, Hobbies,Kontakte)
  • 1 gut sortierte Sammlung mit eigenen Wertvorstellungen / hilfreich ist dabei auch, sich der "Wurzeln" bewußt zu sein und sich gut von den Eltern abgelöst zu haben / ein work-in-progress
  • 1 Prise Ausdauer (wenn's mit der Lust nicht so läuft) - falls dies gerade nicht vorrätig: andere lustvolle Möglichkeiten
  • 1 Eimer voll Respekt u. Achtsamkeit für den/die PartnerIn
  • 1 Badewanne voller Phantasie (die immer wieder gefüllt gehalten wird)
  • 1 EL Humor + 1 Prise Risikobereitschaft (im Sinne eines: ich traue mich, auf den anderen aktiv zuzugehen)
  • 2 Händer voll Sinnlichkeit, die Sie auch wieder bereits am Vortag zubereiten können / überhaupt: probieren Sie Ihre Sinne regelmäßig durch.

Zubereitung

Alle Zutaten werden mit Zeit-für-einander gründlich gemischt, in einen Topf mit neuen Ideen gegeben. Dann lassen Sie die Mischung sich entspannen, vergessen dabei aber nicht aufs Atmen. Regelmäßige Berührungen im Alltag (außerhalb des Bettes) sorgen dafür, dass es tagsüber bereits zu leichten Erregungen sowie zu wärmender Nähe und zu Oxytocin Ausschüttungen kommen kann. Nebenwirkungen dieses Cocktails: Zufriedenheit, emotionale Ausgeglichenheit, innere Wärme, positive Grundstimmung, körperliche Gesundheit, Widerstandskraft, weniger Konsumbedarf, Sicherheitsgefühl, Vertrauen in sich und die Welt. Dazu brauchen Sie Ihren Arzt oder Apotheker nicht weiter befragen. (sonst wird er/sie noch neidisch)

Wenn Sie für all das gesorgt haben UND Ihnen die Lust weiterhin fehlt, können Sie es ja noch immer mit der Chemie versuchen.

Merke:

Ein lustvoller Tag beginnt bereits kurz nach dem  Aufwachen, nicht wie früher häufig angenommen erst abends beim ersten Griff zum Unterleib des Partners/der Partnerin.

 

Abschliessend eine Überlegung

Wie sehen Sie den Unterschied zwischen Lust und Begehren? Das ist jetzt keine sprachliche Haarspalterei, daher wird es dazu im Blog bald etwas geben. Die Frage anders gestellt: Ist Ihnen lieber, dass Ihr Partner/Partnerin nur Lust auf Sie zeigt oder wollen Sie begehrt sein? Was fühlt sich wie an?  Was brauchen Sie selbst, um Begehren aufzubauen?

Mit dieser Frage und mit den besten Wünschen für weitere liebevolle Erfahrungen verabschiede ich mich in den Sommer.

M. Geiger