31 Okt 2016

Psychisch belastete Generationen

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Kriegsenkel und Kriegskinder in der Psychotherapie

Menschen, die während/zwischen beiden Weltkriegen geboren und aufgewachsen sind, werden in der Traumaforschung die Kriegskinder genannt und deren Nachfolger sind die Kriegsenkel. Die "Großeltern" meines Jahrganges war somit der 2. Weltkrieg. In diesem Blogbeitrag soll es um mögliche Folgen für die seelische Gesundheit der Kriegsenkel gehen.

Für meinen Geburtsjahrgang (1961) gab es keine so einschneidenden Erfahrungen wie für meine Eltern oder Großeltern. Abgesehen davon, dass meine Eltern mit dem Aufbau ihrer Existenz in der Nachkriegszeit sehr beschäftigt waren und ich zu einer vaterlos aufgewachsenen Generation gehöre, ist in meinem Aufwachsen nichts weiter Dramatisches passiert. Vaterlos bedeutet: wenig Zeit MIT dem Vater erlebt. Dafür ein sicheres Dach überm Kopf, die Eltern schufen etwas Wohlstand (das erste Auto), jedes Jahr in den Urlaub fahren können, ... uns Kindern eine Schulbildung ermöglichen, ... in Ruhe Weihnachten erleben. Frieden. Abgesehen von den großen Anstrengungen, Verzichtenmüssen, kaum ein Privatleben erlebten wir Beunruhigung während des "kalten Krieges", wachsende Unruhe, als die Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland Terror machte, Zwentendorf,Tschernobil. Und dann war ich bereits ausgezogen.

Kriegsfolgen

Bild: Kriegsereignisse und Menschen in Ruinen, Bildquelle: wikipediaDie Kriegskinder gingen durch zum Teil schreckliche prägende Erfahrungen. Verluste, Verfolgung, Verletzungen und Härte. Wenn ich mit Kriegsenkel in der Psychotherapie auf deren Eltern zu sprechen komme klingt das meist so: 

Der Vater war eher still, oder er sprach sehr dem Alkohol zu, war impulsiv, hat schnell die Nerven (!) verloren ---- oder der Vater fehlte, weil er nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war. Da musst ich / mein ältester Bruder /Schwester stattdessen anpacken. Nein, über sich und seine Gefühle konnten diese Kriegssöhne (=Väter) nicht reden. Die Versorgung mit Lebensnotwendigem stand im Vordergrund.                                                                                Bildquelle: wikipedia -->

Ausdruck für meine Gefühle  -  Wie in ein Vokabelheft werden erlebte und benannte Emotionen eingetragen.

Das emotionale Vokabelheft  der Kriegskinder war nur eine kleine dürftige Sammlung der allerwichtigsten Gefühle. Ein Grundwortschatz. Das Fühlen war der Kriegskindergeneration kaum vorgezeigt worden. Der Bezug zum eigenen Empfinden wurde abtrainiert oder durch Normen vorgegeben - Hart wie Kruppstahl, ... und durch Verhärtung blockiert. Fühlen wurde als (zu) Weichsein abgewertet, verwöhnt werden. Noch bis zum heutigen Tage geistert dieses Gedankengut in manchen Köpfen herum.

Wozu den eigenen Empfindungen trauen, wenn  zu der Zeit vorwiegend der Gehorsam zählte.

Die Kriegstöchter (=Mütter meiner Generation) hatten nicht nur Partner mit beträchtlichen seelischen Wunden auszuhalten, sondern waren selbst während der Kriegszeit oder der nachfolgenden Besatzungszeit oft sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Zumeist wurde diese verharmlost, geleugnet oder aus Scham verschwiegen. Weitere Belastungsthemen waren Flucht und Heimatverlust. Für die Kriegskinder gab es kaum eine Hilfe. Zum "Nervenarzt" zu gehen war zu peinlich, Psychotherapie und Psychopharmaka waren erst in den Anfängen und nur der gehobenen Schicht zugänglich.

Menschen berichten mir jetzt in der Therapie, dass Sie gar nicht auf die Idee gekommen sind, daß sie "deswegen", also aus psychischer Not heraus eine Hilfe aufgesucht hätten. Das sei etwas, womit jeder selbst fertigwerden müsse.

Um nun auf die Belastungen meiner Eltern zu kommen kann ich sagen, das "Rucksacker'l" war leider auch gut gefüllt. Heimatverlust und Flucht (immer auf der Suche danach), Ängste, Gerechtigkeitssinn (nie vergessen Können), trügerisches Weltbild in jungen Jahren "serviert" bekommen (dann Zusammenbruch), tiefe Verunsicherung (durch strenge Ordnung stabil gehalten), Hunger und Not (starre Sparsamkeit), gesundheitliche Schäden (Autoimmunerkrankung). Ein Teil dieser elterlichen Belastung wurde auch für mich wirksam.

 

Neues Wissen

Heute weiss man von Traumafolgestörungen wie Depression, Angstzustände, posttraumatischer Belastungsstörung. Die Beforschung der Überlebenden des Holocaust (und deren Folgegenerationen), der Kriegsveteranen des Vietnam- und des Irakkrieges brachte einen enormen Wissenzuwachs. Jetzt wissen wir, dass Erlebnisse katatstrophalen Ausmaßes spezielle Spätfolgen haben können. Zum Beispiel die post-(lat. nachfolgende) traumatische- (verletzungsbedingte) Belastungsstörung (PTBS). Kriegsflüchtlinge aus Syrien z.B. konfrontieren uns wieder mit dieser Form von seelischem Leid.

Die Flucht eben überstanden, danach Lageraufenthalte und Verluste von Angerhörigen erlebt - dann endlich in Sicherheit und nun: von Albträumen gequält, von Bildern schockiert, apathisch, panisch oder depressiv, neben sich.Bild: Blick in ein Familienalbum mit Bildern aus der Kriegszeit, Bildrechte beim Autor selbst

Aus dem Familienalbum eines Kriegsenkels -->

Mit den Augen des Kindes betrachtet

Zunächst unbelastete Kinder wuchsen bei seelisch z.T. schwerst verletzten Eltern auf. Die Eltern konnten nach dem Kriege mit niemandem darüber reden und mussten alles mit sich selbst ausmachen. Die Kinder kamen zu Eltern, denen das Lachen längst vergangen war. Was das für die Fröhlichkeit eines jungen Wesens bedeutet? Es lernt früh, sich damit zurückzuhalten, damit es bei seinen Eltern keine unaushaltbaren Gefühle auslöst. Es unterdrückt Teile seiner Lebendigkeit und kapselt seine Wünsche ein.

Manche Kinder wurden während der Schwangerschaft bereits vom hohen Stresspegel der (traumatisierten) Mutter beeinflußt (Forschungen dazu gibt es in Folge der Katastrophe von 9/11 ); Väter die ihre Ängste (und Albträume) wegzutrinken versuchten, Mütter deren Blick immer wieder starr wurde, weil ihnen belastende Bilder hochgekommen waren. Eltern die chronisch verspannt waren, weil in ihnen unverarbeitete Gefühle unter einem Muskelpanzer steckten. Kinder haben zwar keine rationalen Erklärungen dafür jedoch sehr viel Sensorium für körperliche Spannungen der Eltern. Auf dieser nicht-sprachlichen Ebene wurden belastende emotionale Zustände kommuniziert.

Kinder können nicht anders, als die Gefühle ihrer Eltern mitzufühlen. Auch (oder gerade) wenn Eltern nicht darüber reden können. Leid überträgt sich ohne viele Worte.

 

Mögliche Auswirkungen

Auswirkungen auf die seelische Entwicklung der Kinder (wie auch der Kriegsenkel) wurden wie folgt bemerkt - sie treten meist im Erwachsenenalter deutlicher zu Tage:

Gefühle des Belastetseins ohne erkennbare Ursache, Neigung zu Angststörungen (Traumbilder wie mitten aus dramatischen Kriegsszenen), Selbstunsicherheit, Probleme mit Bindungen, Schamgefühle, ständiges Bemühen um eine Art Daseinsberechtigung, Verlustgefühle ohne dazu passende live events, unerklärliche Trauer, Übermotiviertsein bei der Arbeit, Leistung als wichtigstes Prinzip. Ein Gefühl von: Genug ist nie genug. Fehlende Selbstfürsorglichkeit, immer wieder die Suche nach ..., Wann immer wir keinen Hinweis auf eigene Erlebnisse vorfinden kann es sich entweder um gut verdrängte eigene  Verletzungen oder um verinnerlichte fremde (die der primären Bezugspersonen) handeln.

Wer sich damit im Rahmen einer Psycho- oder Traumatherapie näher beschäftigt stößt auf Inhalte, die häufig mehr mit den Erlebnissen der Eltern zu tun haben, als mit der eigenen Lebensführung. Da können Kriegsenkel etwas "aufgeladen bekommen" und leiden innerlich an den von den Eltern übertragenen Anteilen, obwohl der Krieg vor über 70 Jahren beendet wurde.

 

Wichtig

Neben Kriegstraumata können jegliche Formen der seelischen Verletzung auf die Folgegenerationen übertragen werden. So zum Beispiel können Suchterkrankungen, Neigung zu Gewalt, suicidale Handlungen, sexualisierte Gewalt, Familiengeheimnisse transgenerational weitergegeben werden. Die Übertragungsmechanismen sind einerseits die Vorbildwirkung, Mängel in der Struktur der Familie (das "Rundherum" war z.B. immer so grenzüberschreitend) bis hinzu epigenetischen Ursachen. Ja richtig gelesen, bestimmte genetische Abschnitte können durch traumatisierende Erfahrungen ein- oder ausgeschalten werden. Hier wird noch intensiv geforscht.

Eines kann mit Bestimmtheit gesagt werden: Traumatisierte Menschen sind in ihrem Gefühlsleben häufig eingeschränkt und ihnen wurde das Grundvertrauen in die Welt meist genommen. Durch eine traumatherapeutische Aufarbeitung oder bei Vorhandensein starker Ressourcen kann manches wieder gut werden. Unbehandelt wird es auch für die nachfolgenden Generationen zu einer Last.

 

Wege zur Begegnung mit den Eltern(-anteilen)

Ein guter Weg könnte zu einem Gespräch mit Ihren Eltern führen (so sie noch leben) und über das gemeinsame Betrachten der Familienfotos auf die Vergangenheit zu reden zu kommen. Dabei kann es vorkommen, dass Eltern, wenn sie altersdement werden, in Kriegserinnerungen eintauchen und sie wieder als völlig real erleben. Hier hilft nur eine empathische Haltung und möglicherweise eine Validation, dies zu erläutern übersteigt den Rahmen dieses Blogs.

Über das "Wieder-den-Eltern-zuordnen" und sich Bewußtmachen, dass nicht wir das Erlebte zu verarbeiten haben kann wieder Entlastung eintreten. Leichter gesagt als getan. Nicht zuletzt sind Belastungen dieser Art auch Thema einer Psychotherapie.

 

Ein gutes Ordnung-Machen mit diesem Thema,

wünscht Ihnen Martin Geiger, Psychotherapeut

 

 

 

Literaturempfehlungen zum Thema